Der Geist im Ohrensessel – oder: Wenn ich tanze…

Obwohl ich schon so lange tanze, fällt es mir gar nicht leicht, in Worte zu fassen, was für mich in der bewegten Meditation des Tanzens genau passiert. Hier bin ich mal der Inspiration und dem Fluss der Worte gefolgt.

Wenn ich tanze, hat der aktive, strukturierende, führende Aspekt meines Geistes Pause, der mich normalerweise durch den Alltag leitet. Es ist ein bisschen als könne er sich entspannen, gemütlich in seinen großen Ohrensessel sinken, sich anlehnen und tief durchatmen. Er darf seine Führungsrolle abgeben und den Bewegungen meines Körpers folgen. Den Bewegungen, die aus dem Körper heraus von alleine entstehen und keinem äußeren Zweck dienen. Den Bewegungen, die einfach gerade gut tun.

Wenn ich tanze, darf der Geist einfach wahrnehmen. Darf seine Aufmerksamkeit auf das richten, was in meinem Körper los ist, wie es meinem Rücken geht, meiner Wirbelsäule, Nacken und Kopf. Er darf dem Raum geben, was spontan an Bewegung entsteht – in Schulter, Armen, Händen. Er darf der Richtung folgen, in die mich Becken, Beine, Füße führen.

Wenn ich tanze und mein Geist sich wahrnehmend zurücklehnt, entsteht ein innerer Raum. Ein innerer Raum, in dem spürbar, sichtbar, erkennbar wird, was ich nicht spüre, sehe, erkenne, wenn mein Geist im Alltags-Modus einen Gedanken nach dem anderen produziert und mir sagt, was als nächstes zu tun oder beachten ist.

Wenn ich tanze, entsteht ein innerer Raum, in dem ich meinen körperlichen Zustand wirklich wahrnehmen kann – meine Bewegungslust oder meine Müdigkeit, ein Zwicken in der Hüfte, die Verspannung in der Schulter, meine Lust mich zu strecken, zu dehnen, loszulassen, durchzuatmen, zu seufzen, zu gähnen, zu hüpfen oder zu lachen. Ah ja, hier bin ich – so bin ich – jetzt – hier – in diesem Moment. Eine stille Freude, in meiner Bewegung, in meinem Tanz bei mir selbst zu sein und mir Aufmerksamkeit zu schenken.

Wenn ich tanze, entsteht ein innerer Raum, in dem ich auf mein Herz lauschen kann – eine Stimme, die ich im Erledigungs-Modus des Alltags oft überhöre. Traurigkeit, die ich noch nicht wahrgenommen habe. Liebe und Dankbarkeit, die ich für das Leben empfinde. Freude über die Menschen in meinem Leben. „Eingemachtes“, Knoten, Konflikte, die sich nach Lösung sehnen. Lust und Neugier, Neues zu tun. Alles hat hier Raum, gesehen und anerkannt zu sein. Ah ja, auch du bist Teil meines Lebens.

Wenn ich tanze, entsteht ein innerer Raum. Ein innerer Raum, in den hinein auch mein Geist seine Blitze schicken kann. Ideen, Inspirationen, neue Perspektiven, die hier aus dem Unbewussten ins Licht kommen, mich Neues erkennen lassen. Erkenntnisse, die mich manchmal so berühren, dass ich weinen muss, weil sie – in gewisser Weise – so simpel und doch so wahr für mich sind.

Wenn ich tanze, ist das alles getragen von meinen Füßen, dem Boden, der Erde. Wenn ich tanze, ist das alles aufgehoben und geborgen – in der Bewegung des Körpers, im Fluss des Tanzes im freien Raum – im Fluss des Lebens selbst.

[Diesen Beitrag habe ich erstmals am 16.02.2016 auf meinem Blog “Life – Work – Dance” veröffentlicht.]